Der Gründer der Galerie, Lorenz Helbling, bezeichnet die vergangenen zwanzig Jahre lakonisch als «gelebte Zeit». Das bescheidene Résumé passt zu ihm. Shanghart ist in Wirklichkeit eine kontinuierliche Erfolgsgeschichte. Wie aber bloss kam ein Schweizer dazu, pionierhaft in China eine Galerie für chinesische Gegenwartskunst zu gründen?
Der in Brugg geborene Helbling schloss 1989 sein Studium in Kunstgeschichte und Chinesisch in der Schweiz ab. Seine Affinität zum chinesischen Film verschlug ihn zunächst nach Hongkong, wo er durch Jobs in Galerien zum ersten Mal mit zeitgenössischer Kunst aus der Volksrepublik China in Berührung kam. Fasziniert von der Kraft dieser Arbeiten, fasste er 1995 den Entschluss, nach Schanghai zu ziehen – dorthin, wo diese Kunst geschaffen wurde. Nur ein Jahr später war die Idee zum eigenen Ausstellungsraum geboren. Schanghai hatte damals 20 Millionen Einwohner – aber keine einzige Galerie. Doch für einen ausländischen Privatmann war es Mitte der neunziger Jahre schier unmöglich, aus dem Stand ein Gewerbe in China anzumelden oder gar Gewerberäume anzumieten. Deshalb begann Lorenz Helbling als 38-Jähriger mit nicht mehr als einem Tisch, einem Stuhl und einem Telefon auf dem Flur des Portman-Hotels. Der damalige Manager des Fünfsternehauses, in dem vornehmlich internationale Gäste abstiegen, überliess Helbling unentgeltlich die leeren Wände des zweiten Stocks. Helbling zeigte dort 15 rote Bilder des abstrakten Malers Ding Yi.
Diese Show war ein Wagnis. Zur Eröffnung kamen vor allem Künstler, die miterleben wollten, wie ein Europäer zum ersten Mal nach dem Tiananmen-Ereignis 1989 zeitgenössische Arbeiten aus China öffentlich in China präsentiert. Denn bis zu dieser Ausstellung agierten die jungen Künstler vornehmlich im Untergrund oder wurden in westlichen Metropolen gezeigt, wie etwa 1993 auf der Biennale in Venedig.
Auch wenn die darauffolgende Zeit für Helbling und seine Galerie finanziell beschwerlich war, blieb Shanghart für die chinesischen Künstler ein Anker. Um sie und ihre Kunst ging es ihm, Helbling machte weiter.
Als das Hotel Portman 1999 an Ritz Carlton verkauft wurde, wich er in provisorische Räume aus, bis er 2002 in der Moganshan Road einen permanenten Galerienstandort fand. Über die Jahre haben sich ringsum andere Galerien, Designerläden und Cafés niedergelassen und so den Ort in ein lebendiges Kunstzentrum verwandelt, das heute als M50 Art District bekannt ist.
Seither hat Helbling Enormes geleistet. In erster Linie hat er den Menschen in China chinesische Gegenwartskunst nähergebracht. Das soziopolitische Klima in der Zeit nach 1989 hatte den Umweg erforderlich gemacht: Die chinesischen Künstler mussten zuerst von Ausländern wahrgenommen werden, um dann später die Akzeptanz der eigenen Landsleute zu finden. Heute haben sich die Vorzeichen umgekehrt, die grossen Käufer und einflussreichen Sammler kommen mittlerweile allesamt aus China. Zhou Tiehai, ein Künstler der Galerie von der ersten Stunde an, bringt es auf den Punkt: «Lorenz ist extrem wichtig für China. Kaum vorstellbar, wie die Kunstszene ohne ihn heute aussehen würde.»
Auf die Frage, worauf er nach zwanzig Jahren stolz sei, antwortet Helbling schlicht: «In einer Welt voller Veränderungen etwas aufgebaut zu haben, das relative Kontinuität, Konstanz und Glaubwürdigkeit hat.» Diese drei Eigenschaften sind es, die seine Künstler ebenfalls an ihm schätzen. Ausser Ding Yi und Zhou Tiehai begleiten ihn Xue Song, Shen Fan, Pu Jie, Tang Guo und Yu Youhan von Beginn an. Zeng Fanzhi, der inzwischen auch von Gagosian repräsentiert wird, kam 1998 hinzu. Mit Xu Zhen, Yang Fudong und Yang Zhenzhong arbeitet er seit 2000 zusammen. Er vertritt inzwischen über 50 Künstler.
Bei der Auswahl stimmt er sich viel mit Mitarbeitern und Vertrauten ab. Dabei lässt er sich von seinem Gespür und Interesse leiten und nimmt sich viel Zeit bei der Entscheidung. Ist sie einmal auf einen Künstler gefallen, baut er diesen über viele Jahre kontinuierlich auf, ohne den Marktwert durch Schlagzeilen und Skandale zu erhöhen. Auch um seine eigene Person macht Helbling nie viel Aufhebens, er verbirgt sie hinter seiner Galerie, die bezeichnenderweise nicht seinen Namen trägt.
Anfänglich ging er beim Aufbau seines Künstlerstamms enzyklopädisch vor, suchte nach den wichtigsten Positionen jener Zeit. Heute legt er den Fokus auf spannende Ausdrucksformen. Viele seiner langjährigen Künstler sind jetzt international anerkannte Grössen. Sie erreichen Spitzenpreise und sind in den wichtigsten Sammlungen vertreten. Aus den Worten seiner Künstler klingt viel Anerkennung für Helblings Passion, Weitsicht und Grosszügigkeit. «Lorenz hat hohe Ansprüche an sich selbst, geht aber mit anderen sehr nachsichtig und grossmütig um», sagt Zeng Fanzhi, der zurzeit teuerste chinesische Zeitgenosse. Er ist nicht der Einzige, mit dem Helbling über Jahre eine tiefe Freundschaft pflegt. Auch die anderen Künstler betonen das Familiengefühl, das sie mit dem Galeristen verbindet.
Seine Umgänglichkeit und seine Beharrlichkeit zahlen sich aus. Mittlerweile betreibt Lorenz Helbling drei Standorte in Asien. 2008 eröffnete er eine Dépendance im etablierten Caochangdi District Pekings. Seit drei Jahren ist er auch in Singapur präsent. Seine Galerie nimmt an den wichtigsten internationalen Kunstmessen teil.
Zum Zwanzig-Jahr-Jubiläum findet parallel und in Zusammenarbeit mit der Art Basel die Gruppenausstellung «The Crocodile in the Pond» im Kloster St. Urban im Kanton Luzern statt. Kuratiert hat die Schau Alexandra Grimmer, die sich über die Jahre als Ausstellungsmacherin und Expertin für chinesische Gegenwartskunst einen Namen gemacht hat. Sie hat elf Künstler der Galerie ausgewählt, die barocken Räume des Zisterzienserklosters zu bespielen. «Das Augenmerk lag auf Künstlern, die installativ, skulptural und filmisch arbeiten, da solche Arbeiten am besten in diesen imposanten Räumen wirken», erklärt die Kuratorin.
Gezeigt wird eine neue Liga von jüngeren Künstlern wie Sun Xun, Birdhead, Han Feng und Zhang Ding, die mit Selbstbewusstsein kühne Darstellungsformen erproben. Möglich gemacht hat das Projekt die Global Art St. Urban Foundation, die vom Ehepaar Heinz und Gertrud Aeschlimann gegründet wurde und von Helbling nach Kräften unterstützt wird.
Nach dem Sommer beginnt auch für Shanghart eine neue Epoche. Nach 14 Jahren am selben Standort zieht die Galerie in grössere Räume in den Westbund District Schanghais, wo sich bereits Privatmuseen und Künstlerateliers angesiedelt haben. Hier entsteht das nächste vielversprechende Kunstzentrum Schanghais. Die Neueröffnung findet zeitgleich mit der aufstrebenden Westbund-Kunst- und -Designmesse im November statt.